Ohne Auto in ländlichen Räumen
Wie eine intelligente Planung bedarfsgerechter Mobilität aussehen kann
Per App ein Ziel angeben, kurze Zeit später zu Hause abgeholt werden und mit einem autonom fahrenden Fahrzeug ans Ziel gebracht werden: Was für die meisten Menschen auf dem Land wie eine Utopie des öffentlichen Nahverkehrs klingt, ist für das Projekt „NeMo.bil“ das angestrebte Ziel. Die Projektpartner entwickeln ein innovatives On-Demand-Mobilitätssystem. Um dieses auszulegen und den Betrieb zu planen, arbeitet der SICP an einem intelligenten Entscheidungsunterstützungssystem. Wie sieht dieses aus – und welche Herausforderungen gibt es?
Gemeinsam mit 20 Projektpartnern zielt das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) mit 17 Millionen Euro geförderte Projekt NeMo.bil darauf ab, einen umweltschonenden individualisierten öffentlichen Verkehr (iÖV) in ländlichen Gebieten zu etablieren – im Idealfall so komfortabel wie die Nutzung des eigenen PKW. Konkret soll das Schwarmsystem so aussehen: Fahrgäste geben über eine App ihr Ziel an und fordern ein sogenanntes „NeMo.Cab“ an. Dieses kleine, sehr leichte und autonom fahrende Elektrofahrzeug holt sie zu Hause ab und steuert einen (virtuellen) Verkehrsknotenpunkt an. Dort schließt es sich mit weiteren Cabs, die aus anderen Richtungen kommen, zu einem Konvoi zusammen. Dieser Konvoi wird von einem größeren, ebenfalls autonom fahrenden Fahrzeug („NeMo.Pro“) gezogen. Das NeMo.Pro wird mit Wasserstoff betrieben und dient gleichzeitig als mobile Ladestation für die Cabs, die während der gekoppelten Fahrt aufgeladen werden können. Im Konvoi legen die Kleinfahrzeuge und das Pro längere Überlandstrecken zurück und können so höhere Reichweiten und Geschwindigkeiten erzielen. Für die „letzte Meile“ koppeln sich die Cabs wieder vom Konvoi ab, um schließlich die individuellen Ziele zu erreichen.
Planung und Auslegung des On-Demand-Mobilitätssystems: Smarte Entscheidungen erfordern intelligente Planungsverfahren
Das schwarmartige Mobilitätssystem stellt eine völlig neue Form von On-Demand-Mobilitätsangeboten dar und bietet damit das Potenzial für eine kosteneffiziente und nachhaltige Mobilität. Insbesondere die Kombination von Konvoi- und Einzelfahrten bieten Chancen zur Stärkung des ÖPNV im ländlichen Raum. Um dieses Potenzial zu nutzen, müssen die Fahrten möglichst koordiniert durchgeführt werden, was eine strategische und operative Systemplanung voraussetzt. Genau hier setzt der SICP im Projekt an. „Ziel ist es, die Frage zu beantworten, wie das schwarmartige Mobilitätssystem mit den NeMo.Pro- und NeMo.Cab-Fahrzeugen für unterschiedliche Nutzungsszenarien unter ökologischen, ökonomischen und nutzerspezifischen Aspekten möglichst effizient ausgelegt und betrieben werden kann. Dazu wird im Projekt ein intelligentes Entscheidungsunterstützungssystem entwickelt“, erläutert Dr. Christoph Weskamp, Leiter des Innovationsbereichs „Seamless Mobility“ am SICP.
Die strategische Flottenplanung umfasst die Fragen zur Gestaltung des Flottenportfolios. So muss festgelegt werden, wie viele Fahrzeuge welchen Typs für eine bestimmte Region angeschafft werden sollen. Dabei sind auch die Fahrzeugeigenschaften wie die Anzahl der Sitzplätze in einem Cab sowie die Batteriekapazität der Fahrzeuge zu untersuchen. Diese Eigenschaften geben die Rahmenbedingungen für die operative Betriebsplanung vor, die einen möglichst effizienten Betrieb sicherstellt und sich dabei mit folgenden Fragen beschäftigt:
- Wie kommen die Fahrgäste mittels einer optimalen Routenplanung möglichst schnell an ihr Ziel?
- Wie können verschiedene Fahrtanfragen gebündelt und zu einer kosteneffizienten Konvoifahrt zusammengeführt werden, die gleichzeitig möglichst geringe Fahrt- und Wartezeiten für die Fahrgäste bedeutet und eine möglichst hohe Auslastung der Cabs erreicht?
- Wie können die Cabs – abhängig von ihrer jeweiligen Route – am sinnvollsten im Konvoi angeordnet werden?
Abb. 2: NeMo.bil-Konvoi bestehend aus einem NeMo.Pro und drei NeMo.Cabs © INYO Mobility
Möglichst geringe Warte- und Reisezeiten, möglichst geringe Kosten und möglichst geringe Umweltbelastung – geht das?
„Eine Herausforderung der strategischen Flottenplanung besteht in der gleichzeitigen Berücksichtigung verschiedener Optimierungsziele, die möglicherweise im Widerspruch zueinanderstehen“, sagt Professor Guido Schryen von der Universität Paderborn, Mitglied der wissenschaftlichen Projektleitung. Während sich die Fahrgäste geringe Warte- und Fahrtzeiten wünschen, geht es für die Betreiber*innen darum, ein möglichst tragfähiges Geschäftsmodell zu finden – das heißt, möglichst viel Umsatz durch möglichst viele Transporte bei möglichst geringen Betriebs- und Investitionskosten für die Fahrzeuge zu erzielen. Diese Kriterien können sich widersprechen: Werden weniger Fahrzeuge eingeplant, führt dies zwar zu geringeren Investitionskosten, aber voraussichtlich auch zu längeren Reisezeiten und damit möglicherweise zu einer geringeren Akzeptanz bei den Fahrgästen. „Unsere Aufgabe besteht darin, diese Ziele gegeneinander abzuwägen und Lösungen zu finden, die unter Berücksichtigung des Zielsystems möglichst gut sind“, erklärt Professor Schryen.
Dazu muss das strategische und das operative Planungsproblem integriert gelöst werden – für die Auslegung des komplexen Systems ist das eine große Herausforderung: „Das bedeutet, dass die kurzfristige Echtzeitplanung, also die Logik, nach der das System auf spontane Transportanfragen reagiert, bei der langfristigen strategischen Planung berücksichtigt werden muss“, so Professor Schryen.
Verschiedene Optimierungsansätze als Basis für ein intelligentes Entscheidungsunterstützungssystem
Um das komplexe Planungsproblem zu lösen, werden verschiedene intelligente Optimierungsmodelle und -verfahren entwickelt, auf deren Basis schließlich das Entscheidungsunterstützungssystem entsteht: Dieses unterstützt Mobilitätsanbieter*innen bei der Planung eines bedarfsgerechten Mobilitätssystems für eine spezifische Region. „Zum einen wird das Planungsproblem als mathematisches Modell abgebildet, das mit Hilfe problemspezifischer Heuristiken gelöst wird. Zum anderen wird eine Simulation vorgenommen, die dem dynamischen Entscheidungsumfeld von NeMo.bil gerecht wird“, erläutert Professor Guido Schryen. „Diese Simulation ermöglicht es, die Auswirkungen verschiedener Entscheidungen auf das Gesamtsystem zu analysieren und damit einen effizienten Systembetrieb zu planen, bevor die Entscheidungen in der Realität umgesetzt werden.“
Neuer Innovationsbereich am SICP: Seamless Mobility
Insgesamt kann die Universität Paderborn dabei auf umfangreiche Erfahrungen im Bereich Operations Research zurückgreifen. Im Bereich Mobilität sind dies beispielsweise Projekte zur Infrastrukturplanung für Elektrobusse und Taxi-Ridesharing-Systeme. Das Projekt NeMo.bil ist im neu gegründeten Innovationsbereich „Seamless Mobility“ am SICP angesiedelt, in dem in enger Kooperation zwischen Wirtschaft und Wissenschaft soziotechnische Lösungen zur Transformation des heutigen Mobilitätssystems erforscht werden. Untersucht wird beispielsweise, wie sogenannte Enabling Technologien wie Künstliche Intelligenz, digitale Plattformen oder Datenräume dazu beitragen können, neue bedarfsgerechte und nachhaltige Mobilitätslösungen zu gestalten und vernetzte Mobilitätslösungen zu ermöglichen. Dabei werden neben technischen Aspekten auch das Verhalten und die Bedürfnisse der Nutzenden untersucht. Die Fragestellungen werden in inter- und transdisziplinärer Zusammenarbeit mit Vertreter*innen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik bearbeitet. Haben Sie Interesse, bei der Transformation im Forschungscampus SICP mitzuwirken? Nehmen Sie gerne Kontakt auf (Dr. Christoph Weskamp, weskamp@sicp.de).
Dr. Christoph Weskamp
Leiter des Innovationsbereichs Seamless Mobility, SICP
weskamp@sicp.de, Tel.: +49 5251 60-5240
[1] Ostermann, M., Behm, J., Marten, T., Tröster, T., Weyer, J., Cepera, K., & Adelt, F. (2023). Individualization of Public Transport–Integration of Technical and Social Dimensions of Sustainable Mobility. In Towards the New Normal in Mobility: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte (pp. 427-446). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.